Das mit Abstand wichtigste Buch, das ich zur Vorbereitung der Reise gelesen habe, ist:

„Africa is not a country“ von Dipo Falonyin. Ich möchte es euch ans Herz legen. Allen, die sich für diesen Kontinent und seine Geschichte interessieren.

Das haben wir noch nicht vollständig aufgearbeitet.

In der Einleitung findet sich ein Zitat der Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie:

„If all I knew about Africa were from popular images, I too would think that Africa was a place of beautiful landscapes, beautiful animals and incomprehensible people, fighting senseless wars, dying of poverty and AIDS, unable to speak for themselves.“

Es folgt ein eindrucksvoller Bericht über die Entstehung der Staaten Afrikas, über Missionare, Kolonialherrscher, Sklaven- und Goldhändler.

Über die Berlin Konferenz von 1884/85, über Bismarcks grandios fehlerhafter Afrikakarte auf der mit willkürlichen, schnurgeraden Strichen Grenzen eingezogen wurden, entlang von Gebirgen, die gar nicht existierten, von Flüssen, die ihren Lauf dauernd ändern, quer durch gewachsene Strukturen. Das Königreich Ghana lag über 850 km nordwestlich des Staates, in dem ich mich gerade befinde. Weit entfernt von den mit Linealen gezogenen heutigen Staatsgrenzen zu Togo, zur Cote D´Ivoire und Burkina Faso. Elfenbein-, Sklaven-Goldküste, davon später mehr.

 

Sie haben nach der Unabhängigkeit mit allem Stolz den Namen des ehemaligen Königreiches Ghana angenommen.

Das Wichtigste in diesem Buch ist die Entlarvung der Oberflächlichkeit, der peinlichen Unwissenheit mit der die Kolonialisten über diesen Kontinent hergefallen und ihn unter sich aufgeteilt haben. Die Ignoranz gegenüber der reichen Geschichte der Völker und ihrem kulturellen Erbe. Erschütternd wird das Buch in dem Bericht über die katastrophalen Auswirkungen der großen Hilfsaktionen für Afrika (Live Aid), die das Bild des hilfsbedürftigen, unmündigen Afrikaners zementieren.

Also: präsent sein, wahrnehmen, die Vorurteile und Bilder wahrnehmen und weiterziehen lassen, nicht festhalten. Kennenlernen und erleben, wie es hier ist, wie die Menschen sind, Ruth, Derick, Peter, Abdul, Jude, Vida, Gabby. Das Zen hilft bei dieser Haltung, denn das Loslassen von Gedanken, Bewertungen, Vorstellungen ist zumindest schon einmal eingeübt. Akwaaba, Ghana.

Bei Dipo Faloyin heißt es:

„For too long, „Africa“ has been treated as a buzzword for poverty, strife, corruption, civil wars, and large expanses of arid red soil where nothing but misery grows. Or it is presented as one big safari park, where lions and tigers roam freely around our homes and Africans spend their days grouped in warrior tribes, barely clothed, spears palmed, hunting game, and jumping up and down with ritualistic rhythm to pass the time before another aid package gets delivered. Poverty or safari, with nothing in between.

Various international charities have convinced them that to be young in Africa is to be surrounded by flies and fuelled with contaminated drinking water. That to be African is a daily exercise in barely escaping the clutches of a rotating cast of free -roaming warlords in dirty fatique, hanging off the back of 4 x 4 Jeeps that whizz along dirty jungle paths.

In reality, Africa is a rich mosaic of experience, of diverse communities and histories, and not a single monolith of predeterminated destinies. We sound different, we laugh differently, craft the mundane in uniquely mundane ways, and our moral compasses do not always point in the same direction.“

Sie klingen unterschiedlich, lachen unterschiedlich, machen ihr Ding unterschiedlich und sind nicht nur moralisch nicht immer in die gleiche Richtung unterwegs.

Genug zitiert, lest am besten selbst. Es ist ein wunderbar geschriebenes, ironisches, witziges und ernstes Buch, voller überraschender Aspekte.

 

Heute besuche ich die junge internistische Assistenzärztin, die die Hochdurcksprechstunde betreut. Eine nach der anderen treten die Hochdruckpatientinnen in das winzige Besprechungszimmer ein, der Blutdruck wird gemessen, die aktuelle Medikation aufgenommen. Einige haben kleine Pappkärtchen mit den Medikamentennamen und Dosierungen dabei. Fast zwei von drei Patienten können nicht lesen und schreiben. Illiterate. Bei der ersten Patientin musste eines der Hochdruckmedikamente wegen der Nebenwirkung Husten ausgetauscht werden, doch hat sie den Ersatz in der Apotheke nicht bekommen oder das Ganze nicht verstanden und deshalb das alte Medikament weiter eingenommen und klagt jetzt über Husten.

Für die Innere Medizin gibt es zur Zeit nur zwei Assistenzärztinnen, einen Facharzt seit Oktober nicht mehr.

Zu zweit bewältigen sie die Sprechstunden, behandeln Hochdruck- und Diabetespatienten, die HIV Infizierten. Zwei Wochen Ambulanz, zwei Wochen Stationdienst im Wechsel. Alle sechs Tage nehmen sie am Notdienst des Krankenhauses teil, in dem sie für alle Disziplinen zuständig sind. Da gibt es wenig Schlaf, am Wochenende bis zu 48 Stunden. Harte Schule nichts dagegen.

Während der Sprechstunde fällt der Strom aus, das Notstromaggregat springt zunächst nicht an. Es ist dunkel in dem kleinen Sprechzimmer. Die junge Ärztin ist entspannt, so ist das alles und sie möchte Spezialistin für Innere Medizin werden, etwas lernen. Geht sie weg oder ihr Kollege, gibt es keinen Arzt mehr, der in der Inneren Medizin arbeitet. Also bleiben sie. Lehrjahre.

Im März könnte ein neuer Chefarzt kommen – wir beten dafür.

Die Diabetes- und Hochdrucktherapie laufen bestens strukturiert ab, es gibt landesweite Initiativen für diese Patientengruppen. Die HIV Patienten sind gut betreut, die antiviralen Medikamente stehen für jeden kostenlos zur Verfügung. Gesundheitssystem mit Stärken, kannst du von lernen.

https://www.afro.who.int/countries/ghana/news/ghana-offensive-against-diabetes

Die Endoskopie läuft weiter. Mittlerweile singe ich mit. Am meisten Freude machte es uns, wenn ich die Lieder mit deutschem Text parallel mitsinge: „Silent night, holy night. All is calm, all is bright“ „Stille Nacht, heilige Nacht“, singe ich mit, „Alles schläft, einsam wacht“. Mir gefällt das „Holy infant, so tender and mild“ viel besser als unser „Holder Knab‘ mit lockigem Haar“.

Diese Haare! Ihre Haut ist zutiefst dunkel braun, ein wirklich beeindruckend schöner Hautton. Doch erst im Kontrast zu den schwarzen Haaren merkst du, dass die Haut gar nicht „schwarz“ ist. Wenn ich meine schlafenden Patienten anschaue, bin ich über ihre Schönheit immer wieder erstaunt. Vielleicht packt mich gerade das Ghanavirus.

Der Alltag hat in dieser Woche seinen Rhythmus gefunden. Es beginnt mit dem Palliativkurs, kurze Pause dann geht es mit den Endoskopien weiter. Bei den Endoskopien werde ich mittlerweile von einem Anästhesisten unterstützt, ein lustiger, stark übergewichtiger älterer Herr, der den Raum füllt. „Why I’m wating“ singt er lauthals und treibt Ruth und Vida an, „pressure, pressure!“, doch die lassen sich nicht antreiben.

Auf den Palliativkurs habe mich mit großem Ernst vorbereitet und bin anfangs aufgeregt, wie früher vor einer mündlichen Prüfung. Ich habe Peter zur Seite, den Pfleger, der gerade in Accra seine Palliativausbildung absolviert und die Palliativeinheit aufbauen und leiten will. Meine Hauptsorge ist die Diskussion, Fragen ins Mikrophon, Ghana – English, da komme ich ins Schleudern, auch, vor allem, wenn sie ihre Frage wiederholen. Jetzt kann ich das Mikrofon an Peter weitergeben, er macht das super. Die Stimmung ist aufmerksam, sie gehen mit. Im Raum sitzen achtunddreißig junge Menschen mit guten Herzen.

Beim Thema Kommunikation, wenn es um die Übermittlung von „bad breaking news“ geht, ums Wesentliche, wenn es um die Begleitung der Sterbenden und ihrer Familien geht, sind meine Zuhörerinnen mit voller Konzentration dabei.

„Sprich aus dem Herzen, höre mit dem Herzen. Sprich wesentlich. Bewerte nicht, höre, bleibe einfach präsent.“

Es geht um die WHO Defintion und um die Geschichte der Palliativmedizin. Ich stelle ihnen Cicely Mary Saunders vor. Mama Cicely, die die Palliativmedizin in Großbritannien in Bewegung gebracht hat. Weiter geht es mit Prinzipien und Haltungen.

Ich warne: die Etablierung der Palliativmedizin hat Nebenwirkungen auf das gesamte Krankenhaus. Menschen, Patienten, Angehörige und Freunde aber auch die Mitarbeitenden rücken ernsthaft in den Mittelpunkt des Interesses; Symptome werden Thema und wir sind wirklich gut in: Symptome.

Die Kommunikation ist Schwerpunkt des zweiten Tages, anschließend bleibt noch Zeit für das Thema Sterben und Tod. Alle haben schon Erfahrungen damit gemacht. Die Krankenhaussterblichkeit liegt über 10 %.

Das Thema des dritten Tages lautet: Symptome! Die meiste Zeit lassen wir uns für das Thema Schmerzen.

Peter bat mich, besonders auf die visuelle Schmerzskala (1 – 10) einzugehen, mit der im Verlauf die Wirksamkeit der Schmerztherapie erfasst wird. 1 ist kein Schmerz, 10 hälst du nicht mehr aus. Wie schön, dass dieses einfache Instrument demnächst überall im Holy Family Hospital eingesetzt wird, eben auch in der Chirurgie, der Inneren, der Gynäkologie.

Abschließend folgen zwei Pflegethemen: Ernährung und Flüssigkeitszufuhr am Lebensende und „oral care“.

Peter und ich freuen sich und hören gar nicht mehr auf, uns die Hände zu schütteln, lauter Beifall und eine kleine aber bewegende Dankesrede. Ich bin wirklich glücklich und Peter auch, ich glaube es hilft der Palliativmedizin und seinem Stand im Krankenhaus. Da geht was.

Ich versuche eine längerfristige Partnerschaft mit der Palliativmedizin in Nürnberg vermitteln. Das wäre eine große Gelegenheit für einen spannenden interkulturellen Austausch auf Augenhöhe. In der Palliativmedizin gilt das Prinzip: high person – low technology. Endlich einmal kein unüberwindliches technologisches Hindernis! „High person“ gibt es in Nkawkaw und das nicht nur numerisch.

Peter Namyun Kwame – Palliative Nurse

Am Abend kommen die Vorbereitungen für unser Cleanup auf dem Krankenhausgelände in Schwung. Abdul hat uns vernetzt. Es haben sich der Projektkoordinator von „Technik ohne Grenzen“ Ghana und die Regionaldirektoren aus der Provinzhauptstadt Koforidua angemeldet. Es wird voll in meinem Guesthouse. Gabby will uns mit einem ghanaischen Festmahl bekochen. Der Reverent spendiert das Bier.

Doch zuvor noch etwas zum Thema: die Nacht.

Es ist dunkel, du legst dich hin. Der Ventilator brummt, draußen rhytmische Musik und monotoner, durchdringender Wechselgesang. Es ist sehr warm. Dir wird schnell klar: schlafen geht sicher nicht. Also entspannen, hin und herdrehen und irgendwann, du merkst es nicht, bist du doch eingeschlafen. Wg Müdigkeit. Um 4:00 Uhr, das glaubst du jetzt nicht, beginnt der Muezzin in der Moschee an, zu rufen. Das dauert. Um 4:30 Uhr folgt der Hahn und dann geht auch schon das Leben los. Volle Power. Du wälzt dich, schwitzt, schläftst wieder ein und dann dehnt sich die Zeit bis der Wecker klingelt und du findest wieder zur Ruhe. Manchmal begleitet dich die Müdigkeit den ganzen Tag.

Morgen ist großer Cleanup Vorbereitungstag, T – Shirts aus Tamale sind unterwegs, Zertifikate müssen gedruckt werden, Müllcontainer bestellt, Handschuhe und Müllsäcke. Alle sind aufgeregt. Wir fahren ins Malcome Preise einkaufen, ich plädiere für Fußbälle, alles andere ist offen. Plastik überall, eine angesichts der Massen von Plastik in jedem Winkel, unsinnige Einzelaktion, vielleicht geht irgendetwas mit Bewusstsein. Es haben sich soviele angemeldet, ganz viele junge Menschen. Sie wollen, dass sich etwas ändert.

Avatar von Ralf Hardenberg

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