Unerwartet meldet sich bei der Ausreise aus Ghana ein tiefes Gefühl von Wehmut.

Die freundlichen Beamten bei der Ausreise, die vier wunderbaren Damen bei der Passkontrolle, die ununterbrochen miteinander scherzen, mit dem fröhlich lachenden Kerl in der Nachbarkabine flirten und mich ohne Kontrolle durchwinken. Bye, Bye. God bless you.

Manchmal merkst du erst rückwirkend durch Wehmut, wie tief dich etwas berührt hat, wie schön es war; kurz, dass du dich verliebt hast.

Am letzten Abend hat das Krankenhaus für mich ein großes Abschiedsfest ausgerichtet – unter meinem Mangobaum. Alle waren da, es wurden große Reden gehalten und getanzt. Diesmal haben wir den Lärm gemacht. Sie können so großartig tanzen – das wollte ich gleich lernen, musste aber nach den ersten Einheiten aufgeben. Das lernst du nicht. Reverent Derick hat es mir erklärt: es ist nicht der Rhythmus Ghana’s, es ist der Rhythmus Afrika‘s, der sich mit ihnen bewegt. Neben mir tanzt Agnes, die OP Schwester mit ihrem Sohn „Baby Kofi“ auf ihrem Rücken. So geht das: auf dem Rücken der Mutter mittanzen, dann hast du den Rhythmus für immer in dir, in deiner Seele.

Es ist ein großer Abschied, in dieser Nacht schlafe ich nicht.

Eine letzte Koloskopie am Abreisetag. Die Zusammenarbeit läuft reibungslos, voll routiniert. Heute kein Gesang.

Alexander, der Fahrer bringt mich nach Elmina, an die Küste westlich von Accra. Fünf Stunden auf schlechten Straßen, das wird dir nicht lang, es sind so beeindruckende Bilder unterwegs. Im kühlen Auto vergißt du rasch, wie warm es draußen ist. Das hast du aber ganz schnell wieder drauf, wenn du eine kurze Pause machst. 34 Grad, direkte Sonne, Staub, schlechte Luft. Schnell weiter.

Schwester Ruth hat „Uncle“, Mr. Blankson kontaktiert, der mich in den kommenden beiden Tagen begleiten wird. Er arbeitet als Führer in den Sklavenburgen von Cape Coast und Elimina, forscht zur Geschichte der Sklaverei und ist Buchautor. Stolz zeigt er mir ein Foto, auf dem er gemeinsam mit Präsident Obama zu sehen ist, den er durch das Castle von Elimina geführt hat.

„Uncle“ ist der Vater von Ruth.

Vielleicht hängt die Schwere meiner Wehmut auch mit dem zusammen, was ich in den Sklavenburgen erfahre. 350 Jahre Verschleppung von Sklaven, 12 Millionen oder mehr, mindestens ein Drittel unter schrecklichsten Bedingungen verstorben. Elende Verliese in denen auf engstem Raum bis zu 600 Sklaven gehalten wurden. Nach durchschnittlich drei Monaten in diesen Verliesen, wurden sie nachts plötzlich in ihren Ketten abgeführt. Durch ein enges Loch, ein „Tor ohne Wiederkehr“ auf Boote verladen und nach Brasilien, in die Karibik und die USA transportiert.

Sie haben so gelitten. Die Soldaten hatten so viel Freude, sie zu quälen.

Wir stehen in der Kirche im ersten Stock. Dort findet sich eine kleine Schule. Den gefangenen schwangeren Sklavinnen wurden ihre Kinder nach der Geburt entrissen. Eines von drei überlebte und wurde im Waisenhaus der Burg großgezogen. Dort haben sie ihnen das Beten und christliche Gesänge beigebracht. Es gibt eine Stelle, unmittelbar vor der Schule dieser Kinder, dort siehst du in einen tiefen Schacht hinab in das finstere Männergefängnis. Sie haben geschrieen in ihrem Elend, in ihrer Hoffnungslosigkeit und Qual und oben mussten die kleinen Waisen fromme Lieder singen. Dort, zwischen den Schreien der Sklaven und den Gesängen der Kinder habe der Kapitän eines Sklavenschiffes, John Newton plötzlich eine Melodie wahrgenommen. Das Amazing Grace. Er spielte es nur auf den schwarzen Tasten.

Mein Guide, Uncle lässt sich Zeit, schließt mich in dunkle Zellen ein, in denen rebellische Sklaven bis zu ihrem Tod eingesperrt waren, ohne Licht, ohne Wasser.

Präsident Obama habe sich während der Führung an Auschwitz erinnert gefühlt.

Es ist so schwer, so dunkel, so erschütternd. Kaum zu ertragen. 350 Jahre lang. Millionenfache Deportation, die größte der Menschheitsgeschichte.

Die Briten haben ihren Anteil bis heute nicht aufgearbeitet, sich niemals entschuldigt. Auch die Queen nicht.

Keine weiteren Details. Eines noch. Wir stehen in der Kirche. Ihr Ausgang führt auf eine Balustrade, die den gesamten Innenhof umgibt. Dort waren die „Dungeons“ der Frauen. Nach dem Gottesdienst wurden die Sklavinnen in den Innenhof getrieben. Die Soldaten und Händler versammelten sich auf dem Balkon und durften sich Frauen aussuchen, die ihnen dann in ihre Räume gebracht wurden. Vorher gewaschen, denn sie waren unter furchtbarsten Bedingungen untergebracht, stanken nach Exkrementen und Schweiß. Waren in Panik, den Familien entrissen, den Kindern entrissen, nach der Entbindung zurückgeschickt ins Elend.

In der Kirche der Kolonialisten hängt ein Schild mit Zeilen aus dem Psalm 132:

„Nicht will ich mein Zelt betreten / noch mich in Ruhe betten

Nicht Schlaf den Augen gönnen / noch Schlummer den Lidern

Bis ich eine Stätte finde für den Herrn, / eine Wohnung für den starken Gott“

Aus dieser Wohnung treten sie hervor, im Kellergeschoss machen sie den „Seelenlosen“ das Leben zur Hölle, treiben sie hinaus und vergewaltigen sie. Wie unter dem Brennglas siehst du hier das größte Defizit und die erstaunlichste „Fähigkeit“ des homo sapiens. Seine Fähigkeit aus der Realität auszusteigen, sie abzuspalten, sein Mitgefühl auszuschalten. Für irgendetwas, das als Genuss gilt, aber niemals glücklich macht, keinen Frieden schafft. Aus der Wirklichkeit aussteigen, die Präsenz aufgeben zugunsten von Luftschlossvergnügen. Doch diese Luftschlösser brennen nieder. Uncle erzählt mir die Geschichte einiger der Kommandeure und ihrer Familien, glücklich waren die nicht. Durch die Forschung sind die Namen der Täter bekannt, die der Opfer nicht, denn sie hatten keinen Namen, die Listen mit den Nummern haben sie verschwinden lassen.

Die Sklaverei hat Auswirkungen bis in die Gegenwart. Dies sind Orte der Erinnerung, es finden sich Kränze und Altäre, immer wieder kommen Menschen hierher, deren Familien von den Verbrechen betroffen waren.

Abends gehe ich zum Strand. Baden im Atlantischen Ozean, wie vor 45 Jahren. Sonnenuntergang, Palmen, der endlose Ozean, der sich von hier bis zur Antarktis streckt, donnernde Wellen. Alles wie in meiner Erinnerung.

Kilometerlange Sandstrände, Langboote auf dem Wasser. Dort, wo sich das Wasser bricht und in die Wellen zurückströmt, dort wo du Muscheln erwartest und Möwen, die nach Krebsen suchen, dort findest du heute endlose Plastikbänke. Es ist ungeheuer traurig. Das verschwindet nicht in hundert Jahren und ist nur der Rand der eigentlichen Katastrophe, den gewaltigen Plastikmüllstrudeln in dem Ozean, die hier so groß sein sollen, wie ganze Kontinente. Der Müll sammelt sich in Nähe des Äquators, an dem unterschiedliche Meeresströmungen aus Nord und Süd zusammentreffen.

Im Ozean, direkt vor Ghana schneidet der Nullmeridian, der aus Greenwich, den Äquator. Hier sei der geographische Mittelpunkt der Erde, also oberflächlich. Ein Punkt nur im Plastikstrudel.

Das Cleanup im Krankenhaus ist Nichts, mein kleines Theaterstück nichts und nichts das Musical: Schluss mit Plastik. Die Müllmassen sind überwältigend, nicht beherrschbar. Das dürfen wir doch ernsthaft den nachkommenden Generationen nicht so hinterlassen.

Vor 45 Jahren gab es hier kein Plastik. Das weiß ich sicher. Die Forderung ist, dass das alles wieder verschwindet. Es ist menschengemacht in weniger als 45 Jahren, dann können wir das auch wieder wegmachen. Endplasticsoup!

Am nächsten Tag fahren wir in den Kakum Nationalpark. Das ist ein winziger Rest des einst riesigen Regenwaldes, auf einer Fläche wie Berlin. Mehr nicht. Nun macht ihm der Klimawandel zu schaffen, ausbleibende Regenfälle, zunehmende Hitze. Im Park leben noch etwa 340 Waldelefanten. Sie können nicht mehr wandern, ihre Gene bleiben isoliert. Aussterben garantiert.

Es sind also Wehmut plus Weltschmerz, die mich bei der Abreise begleiten. Wir fahren durch kleine Dörfer, bunte Märkte an tausenden wunderbaren Menschen vorbei in die riesige Stadt Accra.

Das Leben in Ghana und erst recht in der Hauptstadt ist ungeheuer intensiv, unmittelbar, faszinierend.

„Während ich gehe, reite ich auf dem Büffel“ – lautet das Koan, das mir meine Zenlehrerin für diesen Teil der Reise mitgegeben hat. Schweigend gehen, Schritt für Schritt, jeden Augenblick konzentriert auf nichts anderes, als diesen einen Schritt. Das verstörend schöne und unsäglich schreckliche Leben am Ende des Anthropozän reißt einen davon.

Pictures taken.

Avatar von Ralf Hardenberg

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